Drucken

Dietmar Jürgens bietet derzeit 13 Personen in Einzelsettings heilpädagogische Begegnungen im Wohnverbund St. Gertrud in Morsbach an. Die Personen verfügen über unterschiedliche Kommunikationsfähigkeiten und nutzen unterschiedliche Kommunikationsmodi. Im sich gegenseitig und wechselseitig einstellenden Führen – Folgen nonverbaler Kommunikation mit Stimme, Bewegung und Gestik sowie Klanginstrumenten erleben sich beide Personen in symmetrischer Beziehungsebene und haben zu gleichen Teilen Anteil an der Gestaltung des situativen Geschehens. Beide handeln zutiefst in personaler Mündigkeit und lassen einander gewahr werden in ihrem Sosein. (Jürgens, 2008: 136).

 

Klicken Sie auf "Weiterlesen" oder laden Sie den Artikel als pdf. -> Download als pdf

Dietmar Jürgens: Polyästhetik in heilpädagogischer Berufspraxis

„Polyaisthesis und förderndes Heilen“ nennt der Autor dieser Zeilen 2007 seinen Aufsatz im Tagungsband zum 25. Polyaisthesis-Symposion „25 Jahre Internationale Gesellschaft für Polyästhetische Erziehung“ und formuliert darin Schlussfolgerungen für eine Polyästhetische Heilpädagogik. Ein Jahr zuvor unternimmt er in dem Tagungsband „Öffnungen“ eine grundlegende Zusammenführung seiner Erfahrungen aus der, wie er sie nennt, „polyästhetischen heilpädagogischen Praxis“. Damit differenziert er die heilpädagogische Berufspraxis als eine polyästhetische. „Ich öffne mich mit Herz und Sinn“, so lautet der Titel dieses Aufsatzes. Er stellt als wesenhaftes Merkmal seiner polyästhetischen heilpädagogischen Arbeit sein umfassendes personales Sich-Öffnen dem anderen Menschen in der Situation des dialogischen Zusammenseins heraus, die ihn die Person des Gegenübers in der Gesamtheit ihrer gewachsenen Personalität gewahr werden lässt.

 

In dieser, lediglich durch die Pandemie unterbrochenen Arbeit in seiner Einrichtung fokussiert der Autor in seiner heilpädagogischen Arbeit die körperhaften Ausdrucksmomente der Stimme und der Bewegung eines jeden Menschen. Sich gründend auf das dialogische Prinzip Erich Fromms und der sich damit ergebenden personalen Authentizität (Jürgens, 2008: 16 - 18), eröffnet er den Menschen einen freien Raum zum So-Sein in ihren Situationen, die diese in ihren jeweils eigenen Modi wahrnehmen, und auf die sie in ihren jeweils eigenen Ausdrucksverhalten antworten. Die Bereitstellung solcher Freiräume gewährt ihnen die Erfahrung, eins sein zu können mit ihren Situationen, holus sein zu können im besten Sinne der Wortbedeutung von Heil als ein Wortteil von Heilpädagogik. [Welche Quelle wäre für eine aktuelle Def. von heilpäd. zu empfehlen? Moore?]

 

In seiner Arbeit schließt sich Dietmar Jürgens dem Verständnis von Situation an, das er bei Christian Allesch vorfindet: „menschliche Erfahrung vollzieht sich stets in der Gegenwart von Situation“ (Allesch, 1994: 33) und weiter: „Der Begriff der Situation, wie er etwa von der Utrechter phänomenologischen Schule ausgearbeitet wurde, erfasst menschliche Situation als Kommunikation einer leiblich gegenwärtigen und durch den Horizont ihrer Historizität festgelegten Person mit ihrem Umfeld (…). Menschliche Situation ist demnach nicht gekennzeichnet durch «Reagieren auf Reize» oder «umweltgesteuertes Handeln», sondern durch das Innewerden situationaler Gegebenheiten vor dem Horizont der eigenen Geschichtlichkeit.“ (Allesch, 1994: 33) Für die Kommunikationspartner bedeutet dies ein „Innewerden der Situation“ (und damit auch ein gegenseitiges Innewerden im Anderen) mit anderen Worten, „die Landschaft der uns umgebenden Dinge (wird) präsent als etwas uns Betreffendes.“ (ebd.). Durch die wöchentlich wiederkehrenden, teilweise variierenden kommunikativen Merkmale solchermaßen verstandener Situationen werden Erwartung und Erinnerung möglich, und beide Kommunikationspartner bilden somit aktiv ihre Biografie.

 

Angenommensein durch den heilpädagogischen Dialogpartner, indem dieser ihre Ausdrucksvokabulare, seien dies stimmlich-melodische Lautung oder a‑rhythmische auditiv vernehmbare Spuren ihrer Bewegungen, um nur diese Beispiele aus dem körperhaften Ausdrucksreichtum des Menschen zu nennen, ganz im Sinne des ISO-Prinzips nach Benenzon so gut wie nur irgend möglich abbildet. Dadurch vermittelt er dem Gegenüber die grundlegend existenzielle Erfahrung des dialoggestaltenden Ichs, stetig neu herausgefordert, indem der heilpädagogische Begleiter vorsichtige Impulse durch spielerischen Umgang mit seinen Äußerungen setzt. Wie die Personen in der sich in dieser Weise entwickelnden dialogischen Situationen agieren und reagieren ist das eigentliche improvisatorische Moment im Crossover der jeweiligen und jeweils benutzten Kommunikationsmodi.

 

 

Literatur:

 

Allesch, Christian (1994):

Innehalten – Innewerden. In: Institut für Integrative Musikpädagogik und Polyästhetische Erziehung (Hg.): Lauschen – Schauen – Bilden (= Jahrbuch Polyaisthesis Band I, Wien 1994, S. 31 – 43

 

Jürgens, Dietmar (2006):

Ich öffne mich mit Herz und Sinn – Eine Herleitung aus der polyästhetischen heilpädagogischen Praxis. In: Schwarzbauer, Michaela (Hg.): Öffnungen (= Polyästhetik und Bildung, Bd. 4), Frankfurt/M., Berlin, 2006: S. 99 – 128

 

Jürgens, Dietmar, (2007):

Polyaisthesis und förderndes Heilen. In: Hofbauer, Gerhard / Schwarzbauer, Michaela (Hg.): 25 Jahre Internationale Gesellschaft für Polyästhetische Erziehung, Erfahrungen – Perspektiven (=Tagungsband zum 25. Polyaisthesis-Symposion der Internationalen Gesellschaft für Polyästhetische Erziehung an der Universität Mozarteum Salzburg 2007), München 2007, S. 49 – 59

 

Jürgens, Dietmar (2008):

Die personale Authentizität – eine zentrale Dimension im Schnittfeld von ästhetischer Therapie und Kulturpädagogik. (= Dornacher Reihe der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, hrsg. V. Rüdiger Grimm, Bd. 16) Bern

 

 

-> zurück