Drucken

Unser Mitglied Timm Siering aus Bayreuth schrieb uns, er habe die Eindrücke des letzten Salzburger Symposiums nachwirken lassen. Mit Interesse las ich seine kritische Reflexion von Roschers Polyästhetik-Konzept aus kirchenmusikalischer und liturgischer Perspektive in seiner Publikation „Inszenierung des Heiligen“. Eine Rezension aus polyästhetischer Sicht vermag ich nun anzubieten. Klicken Sie auf  Weiterlesen oder auf den Link -> Download als pdf. 

 

 

Rezension aus polyästhetischer Sicht:
Timm Siering „Inszenierung des Heiligen. Liturgik als Kulturwissenschaft“,
Wiesbaden: Springer, 2024

In der ersten Auseinandersetzung mit dieser Neuerscheinung regt allein der Begriff „Inszenierung“ zu einer interdisziplinären Reflexion an. Die durch den Autor sehr konkrete Einbindung der Prinzipien des Konzepts der Polyästhetischen Erziehung von Wolfgang Roscher in die konkret litur­gisch konnotierte Forschungsarbeit „Inszenierung des Heiligen“ überrascht; stehen doch „[l]iturgische Inszenierungen erstens als solche und zweitens von der Musik her [gedacht]“ (S. 50) im Fokus der Forschungsarbeit.

Allerdings beschränkt sich Siering auf eine – zweifellos interessant kritische – Diskussion der Grund­strukturen des polyästhetischen Konzepts Roschers und seines Werkbegriffs. Auch dass Roschers früheste Publikationen durch konkret liturgischen Kontext dem Feld der Theologie zuzurechnen sind und seine letzten Kompositionen eine auffällige Hinwendung zu religiösen Orientie­rungen zeigen, bleibt in Sierings Arbeit unerwähnt. Im Grunde genommen sucht Siering, fokussiert auf das Musikali­sche, nach Antworten für eine „liturgische Praxis“. Und die ist wohl eine ästhetische Praxis, wie Siering m.E. im Verweis auf Rinderle (S. 34) anklingen lässt?

Roscher ging es um eine im weitesten Sinn ästhetische Synopse mit (den multimedialen) Mitteln der Künste. Die Inszenierung zu existentiell gewichtigen Themen oder Kategorien waren deren Ausgang und Zielsetzung, u.a. von „Kunst und Religion“ als Symposion 1994.

Selbst Roschers meist monumentale Vorträge ließen sich als Inszenierungen verstehen, wenn schon nicht explizit des Heiligen, so doch des ästhetisch Erhabenen. Ein Einstieg in einen erweiterten Diskurs wäre auch deshalb höchst interessant, weil Roscher mindestens so vielfältig Beispiele „geistlicher Musik“ in seine Aufführungen einband – was Siering an anderer Stelle auch würdigt (S. 62) –, wie er solches von Karl Heinrich Ehrenforth schildert (S. 20 ff).

Siering verbindet die Frage nach Zweck oder Zweckfreiheit der Musik mit der generellen Frage nach deren Autonomie (S. 48 ff). Roscher hingegen verwarf die Frage nach den Zwecken, indem er sie durch die Frage nach dem Sinn aufhob. Solches erfolgte i.d.R. aus hermeneutischer Perspektive, beispiels­weise in tiefgründigen musikpädagogischen Diskussionen mit Ehrenforth.

Dass Roschers scharfe Abgrenzung zur populären Musik und zur sog. „pädagogischen Musik“ sich aus heutiger Sicht als nicht zielführend erweist, sieht Siering völlig richtig (S. 64). Historisch betrachtet wäre es interessant, zu fragen, wie weit Roscher solches Vorgehen damals rhetorisch-dialektisch nutzen wollte, um seinen alternativen Ansatz zu inszenieren und zu etablieren.

Die Reflexion der polyästhetischen Aspekte gerät Siering hingegen, wie erwähnt, zu knapp (S. 64 ff). Freilich zählt Roschers „multimedialer Aspekt“ zu den am häufigsten missverstandenen Termini aus heutiger Sicht, bedeutete er doch die Integration menschlicher Ausdrucksformen. Kulturelle „Aneig­nung“ war definitiv nicht Roschers Rhetorik (vgl. S. 67), aufrichtige Wertschätzung des “Fremden“ war gelebtes Prinzip. Einer seiner wichtigsten Partner war der jüdische Gelehrte Hanan Bruen, wie gesagt: einer, von vielen. Vermuteter Eurozentrismus wäre somit ein weiterer Fehlschluss. Treffsicher ist Sierings Hervorhebung des sozial-kommunikativen Aspekts. Roschers Klangszenenimprovisationen an eigenen Symposien waren vitale Exempel ästhetischer Teilhabe.

Sierings Blick mündet schließlich in eine doch sehr treffliche (m.E. das Vorhergehende überraschend relativierende) Zusammenfassung (S. 69 f). Etliches davon fließt danach in Sierings ausführliche Diskus­sion aus der Perspektive liturgischer Praxis ein, die, wenngleich hier nicht rezensiert, das Buch gleich­ermaßen lesenswert macht, wie das zuvor Kommentierte. Dabei lassen sich nämlich Feinheiten entde­cken, etwa im weiteren Bezug auf Roscher (S. 108) mit dem Hinweis, selbst dessen theoretische Ausführungen klängen performativ – wodurch sich der Kreis zu einem „Feld möglicher Inszenierungen“ schließt.

Gerhard Hofbauer

 

-> zurück